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Nicht zu weit - Goethe Johann Wolfgang - Страница 2


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«In solchen Gedanken war ich heftig im Zimmer auf und ab gegangen, der Kellner hatte mir eine Tasse Bouillon gebracht, deren ich sehr bedurfte; denn uber die sorgfaltigsten Anstalten dem Fest zuliebe hatte ich nichts zu mir genommen, und ein kostlich Abendessen stand unberuhrt zu Hause. In dem Augenblick horten wir ein Posthorn sehr angenehm die Stra?e herauf. ›Der kommt aus dem Gebirge‹, sagte der Kellner. Wir fuhren ans Fenster und sahen beim Schein zweier helleuchtenden Wagenlaternen vierspannig, wohlbepackt vorfahren einen Herrschaftswagen. Die Bedienten sprangen vom Bocke: ›Da sind sie!‹ rief der Kellner und eilte nach der Ture. Ich hielt ihn fest, ihm einzuscharfen, er solle ja nichts sagen, da? ich da sei, nicht verraten, da? etwas bestellt worden; er versprach's und sprang davon.

Indessen hatte ich versaumt zu beobachten, wer ausgestiegen sei, und eine neue Ungeduld bemachtigte sich meiner; mir schien, der Kellner saume allzu lange, mir Nachricht zu geben. Endlich vernahm ich von ihm, die Gaste seien Frauenzimmer, eine altliche Dame von wurdigem Ansehen, eine mittlere von unglaublicher Anmut, ein Kammermadchen, wie man sie nur wunschen mochte. ›Sie fing an‹. sagte er, ›mit Befehlen, fuhr fort mit Schmeicheln und fiel, als ich ihr schontat, in ein heiter schnippisches Wesen, das ihr wohl das naturlichste sein mochte.‹»

«Gar schnell bemerkte ich«, fahrt er fort,»die allgemeine Verwunderung, mich so alert und das Haus zu ihrem Empfang so bereit zu finden, die Zimmer erleuchtet, die Kamine brennend; sie machten sich's bequem, im Saale fanden sie ein kaltes Abendessen; ich bot Bouillon an, die ihnen willkommen schien.»

Nun sa?en die Damen bei Tische, die altere speiste kaum, die schone Liebliche gar nicht; das Kammermadchen, das sie Lucie nannten, lie? sich's wohl schmecken und erhob dabei die Vorzuge des Gasthofes, erfreute sich der hellen Kerzen, des feinen Tafelzeugs, des Porzellans und aller Geratschaften. Am lodernden Kamin hatte sie sich fruher ausgewarmt und fragte nun den wieder eintretenden Kellner, ob man hier denn immer so bereit sei, zu jeder Stunde des Tags und der Nacht unvermutet ankommende Gaste zu bewirten? Dem jungen, gewandten Burschen ging es in diesem Falle wie Kindern, die wohl das Geheimnis verschweigen, aber, da? etwas Geheimes ihnen vertraut sei, nicht verbergen konnen. Erst antwortete er zweideutig, annahernd sodann, und zuletzt, durch die Lebhaftigkeit der Zofe, durch Hin- und Widerreden in die Enge getrieben, gestand er: es sei ein Bedienter, es sei ein Herr gekommen, sei fortgegangen, wiedergekommen, zuletzt aber entfuhr es ihm, der Herr sei wirklich oben und gehe beunruhigt auf und ab. Die junge Dame sprang auf, die andern folgten; es sollte ein alter Herr sein, meinten sie hastig; der Kellner versicherte dagegen, er sei jung. Nun zweifelten sie wieder, er beteuerte die Wahrheit seiner Aussage. Die Verwirrung, die Unruhe vermehrte sich. Es musse der Oheim sein, versicherte die Schone; es sei nicht in seiner Art, erwiderte die Altere. Niemand als er habe wissen konnen, da? sie in dieser Stunde hier eintreffen wurden, versetzte jene beharrlich. Der Kellner aber beteuerte fort und fort, es sei ein junger, ansehnlicher, kraftiger Mann. Lucie schwur dagegen auf den Oheim: dem Schalk, dem Kellner, sei nicht zu trauen, er widerspreche sich schon eine halbe Stunde.

Nach allem diesem mu?te der Kellner hinauf, dringend zu bitten, der Herr moge doch ja eilig herunterkommen, dabei auch zu drohen, die Damen wurden heraufsteigen und selbst danken.»Es ist ein Wirrwarr ohne Grenzen«, fuhr der Kellner fort;»ich begreife nicht, warum Sie zaudern, sich sehen zu lassen; man halt Sie fur einen alten Oheim, den man wieder zu umarmen leidenschaftlich verlangt. Gehen Sie hinunter, ich bitte. Sind denn das nicht die Personen, die Sie erwarteten? Verschmahen Sie ein allerliebstes Abenteuer nicht mutwillig; sehens- und horenswert ist die junge Schone, es sind die anstandigsten Personen. Eilen Sie hinunter, sonst rucken sie Ihnen wahrlich auf die Stube.»

Leidenschaft erzeugt Leidenschaft. Bewegt, wie er war, sehnte er sich nach etwas anderem, Fremdem. Er stieg hinab, in Hoffnung, sich mit den Ankommlingen in heiterem Gesprach zu erklaren, aufzuklaren, fremde Zustande zu gewahren, sich zu zerstreuen, und doch war es ihm, als ging' er einem bekannten ahnungsvollen Zustand entgegen. Nun stand er vor der Ture; die Damen, die des Oheims Tritte zu horen glaubten, eilten ihm entgegen, er trat ein. Welch ein Zusammentreffen! Welch ein Anblick! Die sehr Schone tat einen Schrei und warf sich der Altern um den Hals, der Freund erkannte sie beide, er schrak zuruck, dann drangt' es ihn vorwarts, er lag zu ihren Fu?en und beruhrte ihre Hand, die er sogleich wieder loslie?, mit dem bescheidensten Ku?. Die Silben» Au-ro-ra!«erstarben auf seinen Lippen.

Wenden wir unsern Blick nunmehr nach dem Hause unsres Freundes, so finden wir daselbst ganz eigne Zustande. Die gute Alte wu?te nicht, was sie tun oder lassen sollte; sie unterhielt die Lampen des Vorhauses und der Treppe; das Essen hatte sie vom Feuer gehoben, einiges war unwiederbringlich verdorben. Die Kammerjungfer war bei den schlafenden Kindern geblieben und hatte die vielen Kerzen der Zimmer gehutet, so ruhig und geduldig als jene verdrie?lich hin und her fahrend.

Endlich rollte der Wagen vor, die Dame stieg aus und vernahm, ihr Gemahl sei vor einigen Stunden abgerufen worden. Die Treppe hinaufsteigend, schien sie von der festlichen Erleuchtung keine Kenntnis zu nehmen. Nun erfuhr die Alte von dem Bedienten, ein Ungluck sei unterwegs begegnet, der Wagen in einen Graben geworfen worden, und was alles nachher sich ereignet.

Die Dame trat ins Zimmer:»Was ist das fur eine Maskerade?«sagte sie, auf die Kinder deutend.»Es hatte Ihnen viel Vergnugen gemacht«, versetzte die Jungfer,»waren Sie einige Stunden fruher angekommen. «Die Kinder, aus dem Schlafe geruttelt, sprangen auf und begannen, als sie die Mutter vor sich sahen, ihren eingelernten Spruch. Von beiden Seiten verlegen, ging es eine Weile, dann, ohne Aufmunterung und Nachhulfe, kam es zum Stocken, endlich brach es vollig ab, und die guten Kleinen wurden mit einigen Liebkosungen zu Bette geschickt. Die Dame sah sich allein, warf sich auf den Sofa und brach in bittre Tranen aus.

Doch es wird nun ebenfalls notwendig, von der Dame selbst und von dem, wie es scheint, ubel abgelaufenen landlichen Feste nahere Nachricht zu geben. Albertine war eine von den Frauenzimmern, denen man unter vier Augen nichts zu sagen hatte, die man aber sehr gern in gro?er Gesellschaft sieht. Dort erscheinen sie als wahre Zierden des Ganzen und als Reizmittel in jedem Augenblick einer Stockung. Ihre Anmut ist von der Art, da? sie, um sich zu au?ern, sich bequem darzutun, einen gewissen Raum braucht, ihre Wirkungen verlangen ein gro?eres Publikum, sie bedurfen eines Elements, das sie tragt, das sie notigt, anmutig zu sein; gegen den einzelnen wissen sie sich kaum zu betragen.

Auch hatte der Hausfreund blo? dadurch ihre Gunst und erhielt sich darin, weil er Bewegung auf Bewegung einzuleiten und immerfort, wenn auch keinen gro?en, doch einen heitern Kreis im Treiben zu erhalten wu?te. Bei Rollenausteilungen wahlte er sich die zartlichen Vater und wu?te durch ein anstandiges, altkluges Benehmen uber die jungeren ersten, zweiten und dritten Liebhaber sich ein Ubergewicht zu verschaffen.

Florine, Besitzerin eines bedeutenden Rittergutes in der Nahe, winters in der Stadt wohnend, verpflichtet gegen Odoard, dessen staatswirtliche Einrichtung zufalliger-, aber glucklicherweise ihrem Landsitz hochlich zugute kam und den Ertrag desselben in der Folge bedeutend zu vermehren die Aussicht gab, bezog sommers ihr Landgut und machte es zum Schauplatze vielfacher anstandiger Vergnugungen. Geburtstage besonders wurden niemals verabsaumt und mannigfaltige Feste veranstaltet.

Florine war ein munteres, neckisches Wesen, wie es schien, nirgends anhanglich, auch keine Anhanglichkeit fordernd noch verlangend. Leidenschaftliche Tanzerin, schatzte sie die Manner nur, insofern sie sich gut im Takte bewegten; ewig rege Gesellschafterin, hielt sie denjenigen unertraglich, der auch nur einen Augenblick vor sich hinsah und nachzudenken schien; ubrigens als heitere Liebhaberin, wie sie in jedem Stuck, jeder Oper notig sind, sich gar anmutig darstellend, weshalb denn zwischen ihr und Albertinen, welche die Anstandigen spielte, sich nie ein Rangstreit hervortat.

Den eintretenden Geburtstag in guter Gesellschaft zu feiern, war aus der Stadt und aus dem Lande umher die beste Gesellschaft eingeladen. Einen Tanz, schon nach dem Fruhstuck begonnen, setzte man nach Tafel fort; die Bewegung zog sich in die Lange, man fuhr zu spat ab, und von der Nacht auf schlimmem Wege, doppelt schlimm, weil er eben gebessert wurde, ehe man's dachte, schon uberrascht, versah's der Kutscher und warf in einen Graben. Unsere Schone mit Florinen und dem Hausfreunde fuhlten sich in schlimmer Verwickelung; der letzte wu?te sich schnell herauszuwinden, dann, uber den Wagen sich biegend, rief er:»Florine, wo bist du?«Albertine glaubte zu traumen; er fa?te hinein und zog Florinen, die oben lag, ohnmachtig hervor, bemuhte sich um sie und trug sie endlich auf kraftigem Arm den wiedergefundenen Weg hin. Albertine stak noch im Wagen, Kutscher und Bedienter halfen ihr heraus, und gestutzt auf den letzten suchte sie weiterzukommen. Der Weg war schlimm, fur Tanzschuhe nicht gunstig; obgleich von dem Burschen unterstutzt, strauchelte sie jeden Augenblick. Aber im Innern sah es noch wilder, noch wuster aus. Wie ihr geschah, wu?te sie nicht, begriff sie nicht.

Allein als sie ins Wirtshaus trat, in der kleinen Stube Florinen auf dem Bette, die Wirtin und Lelio um sie beschaftigt sah, ward sie ihres Unglucks gewi?. Ein geheimes Verhaltnis zwischen dem untreuen Freund und der verraterischen Freundin offenbarte sich blitzschnell auf einmal, sie mu?te sehen, wie diese, die Augen aufschlagend, sich dem Freund um den Hals warf, mit der Wonne einer neu wiederauflebenden zartlichsten Aneignung, wie die schwarzen Augen wieder glanzten, eine frische Rote die bla?lichen Wangen auf einmal wieder zierend farbte; wirklich sah sie verjungt, reizend, allerliebst aus.

Albertine stand vor sich hinschauend, einzeln, kaum bemerkt; jene erholten sich, nahmen sich zusammen, der Schade war geschehen, man war denn doch genotigt, sich wieder in den Wagen zu setzen, und in der Holle selbst konnten widerwartig Gesinnte, Verratene mit Verratern so eng nicht zusammengepackt sein.

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Goethe Johann Wolfgang - Nicht zu weit Nicht zu weit
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