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Die geheime Reise der Mariposa - Michaelis Antonia - Страница 8


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Jonathan grinste unwillkurlich. Jose, dachte er, redete dafur umso lieber.

»Das sind zu viele Fragen«, sagte er. »Wichtig ist nur eines: Ich wollte nicht gerettet werden. Auch heute Morgen nicht. Bitte, bitte, hor auf, mich dauernd zu retten.«

»Gut«, sagte Jose. »Spring zuruck ins Wasser und ertrink. Ich werde dich nicht daran hindern.«

»Nein?« Jonathan stand auf und legte die Scheibe Brot, die er nicht angebissen hatte, zuruck auf die Bank.

Das Meer war noch immer so blau und die Sonne so warm und alles so friedlich, dass er sich beinahe dumm vorkam. Aber er musste es tun. Jetzt, ehe er den Mut dazu nicht mehr aufbrachte. Er kletterte auf die Bank, stieg auf die Reling und sprang. Das Wasser war kuhl, aber nicht kalt. Er kam hoch und horte Jose fluchen. Er sah die Mariposa davonsegeln. Er legte sich im Wasser auf den Rucken und sah in den Himmel, uber den einzelne Wolken unterwegs waren. Er wurde hier so liegen bleiben und in den Himmel sehen, bis … Im Augenwinkel sah er, wie die Mariposa wendete. Kurz darauf war sie wieder neben ihm, und er spurte, wie sich Joses Hand um seinen Arm schloss. Er versuchte wegzuschwimmen, er war ein guter Schwimmer. Aber Jose war stark. Sekunden spater sa? Jonathan wieder an Deck wie ein Fisch auf dem Trockenen.

Er blickte in Joses wutendes Gesicht und dann gab Jose ihm eine Ohrfeige. Irgendwoher kannte er diese Szene – war ihm nicht das Gleiche in einem Luftschutzkeller passiert, damals, in jener Nacht?

»Bei uns sagt man, Ohrfeigen sind fur kleine Kinder und verruckte Frauen«, knurrte Jose. »Such dir aus, was du bist.«

»Du … du hast gesagt, du wurdest mich nicht hindern …«

»Dann habe ich eben gelogen«, sagte Jose. »Was bildest du dir eigentlich ein, so mit deinem Leben umzugehen? Das Leben kommt von Gott. Lernt ihr keine Gottesfurcht, da, wo du herkommst?«

»Nein«, murmelte Jonathan. »Da, wo ich herkomme, gibt es keinen Gott. Er ist verloren gegangen.«

»Aber hier, hier gibt es einen«, sagte Jose argerlich. »Und deshalb lasst du es jetzt schon bleiben, dich umzubringen, kapiert? Ich werde dich so oft aus dem verdammten Wasser ziehen, wie du hineinspringst. Notfalls schlage ich dich bewusstlos, aber solange du auf meinem Schiff bist, stirbst du nicht. Klar?«

»Es ist noch nicht mal dein Schiff«, sagte Jonathan. »Sonst wusstest du besser Bescheid uber gewisse Pistolen, die unter Deck herumliegen. Wo hast du es her? Hast du es geklaut?«

Jose schuttelte den Kopf. »Es ist das Schiff eines Toten.«

»Das Schiff eines Toten! Siehst du!«, rief Jonathan. »Alle sind tot. Die ganze Welt ist tot! Es ist nur logisch, auch sterben zu wollen!«

»Wenn du dich horen konntest«, sagte Jose. »Vielleicht hat der Krieg in Europa dir den Verstand geraubt. Die Narbe an deiner Stirn – ist sie … von … einem Granatsplitter? Einem Streifschuss? Von einer nahen Explosion? Einer …«

»Stehlampe«, sagte Jonathan nuchtern.

»Steh… Stehlampe? Die Deutschen kampfen mit seltsamen Waffen.«

Plotzlich beugte Jose sich vor, packte Jonathans Arm und zog ihn vom Boden hoch. Sein Gesicht war Jonathans ganz nah. »Ich brauche dich«, sagte er. »Ich habe es gestern Nacht gemerkt.«

Es klang wie ein Satz aus einem mittelma?igen Schnulzenfilm. Jonathan dachte an Richard, den Blockwart vom Hauserblock 21, der auch versucht hatte, ihm nah zu sein. Zu nah. Sein Magen drehte sich um. »Wie bitte?«

»Ich brauche dich, um dorthin zu kommen, wo ich hinwill. Ich brauche einen zweiten Mann am Steuer, der nachts auf den Kurs achtet.«

Die Erleichterung brachte Jonathan beinahe zum Lachen. »Vergiss es«, sagte er. »Ich verstehe nichts von Schiffen. Lass mich zuruck ins Wasser.«

»Dios!« Jose lie? Jonathans Arm so plotzlich los, dass er unsanft auf die Decksplanken zuruckfiel. »Gut. Ich mache sowieso halt auf Santiago, da setze ich dich ab und versuche es allein. Von mir aus kannst du dann vom nachstbesten Felsen springen und dir das Genick brechen. Aber solange du auf meinem Schiff bist, trage ich die Verantwortung. Also iss jetzt das verdammte Brot.«

Jose verbrachte den ganzen Nachmittag damit, sich zu argern. Er argerte sich uber den Jungen, den er aus dem Wasser gezogen hatte. Er argerte sich uber die Abuelita, die ab und zu in seinen Gedanken kicherte. Ein schoner Held bist du,kicherte sie, rettest einen, der gar nicht gerettet werden will …Er argerte sich daruber, dass der Wind drehte und sie nicht mehr so gut vorankamen, und uber die ganze gottverdammte Welt. Als Santiago nahe genug war, dass er einzelne Buchten erkennen konnte, horte er auf, sich zu argern, und begann sich ein paar Dinge zu fragen.

Er fragte sich zum Beispiel, woher die Pistole gekommen war. Wenn Jonathan die Wahrheit sagte, war es nicht seine. Jose musste sie bei seinem ersten Besuch in der Kajute ubersehen haben. Aber hatten die Amerikaner sich das Schiff nicht angesehen, das in den Hafen von Baltra geschleppt worden war? Hatten sie die Waffe nicht mitgenommen, wenn sie schon damals auf dem Tisch gelegen hatte?

Jonathan hatte die ganze Zeit uber still dagesessen und aufs Meer hinausgesehen. Er trug wieder seine eigenen Kleider, obwohl auch die ihm zu gro? zu sein schienen. Er hatte darauf bestanden, sich in der Kajute umzuziehen. Aber wenigstens hatte er keinen Versuch mehr gemacht, ins Wasser zu springen.

»Ubernimm du das Steuer«, sagte Jose jetzt. »Ich bin gleich wieder da.«

»Ich kann nicht …«

Jose seufzte. »Jeder kann ein Steuer festhalten.«

Er kletterte unter Deck und sah sich noch einmal genauer um. Er schuttelte die Kleider bei den Kanistern aus. Es war nur ein Haufen alter Kleider. Die Kleider eines Toten. Nichts in den Taschen. Er untersuchte die beiden Banke. Sie lie?en sich hochklappen, und fur einen Moment dachte Jose, er wurde dort ein Geheimnis finden, doch er fand nur Werkzeuge und Farbtopfe. Uber den Banken gab es zu jeder Seite ein Regal, vorn gesichert durch ein zusatzliches Brett, damit die Dosen mit den Nahrungsmitteln nicht herunterfielen. Rechts, an der Steuerbordseite, konnte man die Wand uber dem Regal aufklappen, und dahinter standen noch mehr Dosen mit Nahrungsmitteln. Immerhin wurde er nicht verhungern. Trotzdem gab es noch immer keine Erklarung fur das Auftauchen der Pistole.

Durch die angelehnte Kajutentur sah Jose, wie Jonathan das Steuerruder mit beiden Handen festhielt. Er lachelte. Da war etwas in Jonathans Augen, das ihn hoffen lie?. »Hilf mir, Mariposa«, wisperte Jose. »Zeig ihm, wie gut es sich anfuhlt, dich zu steuern. Lass ihn diese alte Rechnung vergessen, die er mit dem Tod offen hat. Lass …«

In diesem Augenblick legte jemand eine Hand auf seine Schulter. Er schrie auf und fuhr herum. Hinter ihm stand – niemand. Aber die Beruhrung auf seiner Schulter war noch da. Etwas sa? dort. Etwas Kleines, Braunes. Ein winziges Tier.

Es musste aus einer dunklen Ecke auf seine Schulter gesprungen sein. Jose stieg die Stufen hinauf an Deck und versuchte gleichzeitig, das Tier von seiner Schulter zu entfernen. Es lie? sich nicht entfernen. Es hielt sich mit seinen kleinen Krallen sehr entschlossen fest.

Jose verrenkte sich den Kopf, um das Tier zu sehen, und da horte er Jonathan zum ersten Mal lachen. »Galapagos-Reisratte«, sagte Jonathan. »Endemisch.«

»Bitte was?«, fragte Jose verargert. »Und was ist uberhaupt so lustig?«

»Dein Gesicht«, sagte Jonathan. »Das auf deiner Schulter – es ist eine Ratte. Eine Sorte, die es nur hier auf den Inseln gibt. Das ist es, was endemisch bedeutet. Dass es sie nur hier gibt.«

»Woher wei?t du das?«

Jonathan streckte die Hand aus und loste die Pfoten der Ratte vorsichtig von Joses Hemd. »Das ist eine lange Geschichte.« Er betrachtete die Ratte. Sie war kein bisschen scheu. »Du solltest ihr einen Namen geben«, meinte Jonathan.

»Einer Ratte, Jonathan? Bist du noch ganz dicht? Es gibt diese Sorte vielleicht nur auf unseren Inseln, aber dafur zu Tausenden. Sie geht uber Bord, und zwar jetzt. Sie frisst die Vorrate. Gib sie her.«

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