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Die geheime Reise der Mariposa - Michaelis Antonia - Страница 60


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Hinter ihnen am Verandatisch waren die letzten komplizierten Erklarungen verebbt wie die Wellen eines pazifischen Sturms. Es hatte den ganzen Nachmittag und einen Gutteil des Abends gedauert. Aber inzwischen war selbst Jeff Lindsey nicht mehr der Uberzeugung, das kleine Haus unter der Bougainvillea ware eine verborgene deutsche Funkstation, die deutsche U-Boote uber die Bewegungen amerikanischer Patrouillenschiffe informierte. Mama hatte ihnen allen ein Abendessen aus Maisfladen und Huhnerfleisch vorgesetzt, denn viel mehr gab es noch nicht auf der Farm, doch sie waren alle dankbar dafur gewesen. Jetzt sa?en die Manner schweigend am Tisch und rauchten Zigaretten, die die Amerikaner mitgebracht hatten. Marit zog die Nase kraus.

»Jose«, sagte Joses Vater.

Jose drehte sich um. Sein Vater hielt ihm eine Zigarette entgegen.

»Du wolltest immer ein Mann sein«, sagte er. »Nach allem, was du in den letzten Wochen offenbar erlebt hast … Ich schatze, du bist tatsachlich kein Kind mehr. Willst du mit uns rauchen?«

Marit sah den belustigten Ausdruck in den Augen der anderen. Jetzt, dachte sie, wurde Jose ihnen zeigen, dass er sich durchaus mit Zigaretten auskannte. Doch Jose schuttelte den Kopf.

»Danke«, sagte er. »Aber eigentlich habe ich die Dinger nie gemocht. Sie schmecken scheu?lich. Ich glaube, ich brauche sie nicht, um ein Mann zu sein.«

Die Amerikaner lachten. Jose zuckte nur die Schultern … die gesunde Schulter. Dann zog er sich mit dem heilen Arm am Gelander der Veranda hoch und ging in den Abend hinaus, um das Haus herum, dorthin, wo alles ruhig war und niemand uber einen lachen konnte. Marit folgte ihm. Sie gingen bis zum Maisfeld, uber dem jetzt keine blauen Schmetterlinge mehr flatterten. Die Schmetterlinge waren schlafen gegangen. Bald wurde es ganz dunkel sein.

»Ich frage mich, was mit meinem Urgro?vater geschehen ist«, sagte Jose. »Wir werden es nie herausfinden, nehme ich an. Aber ich glaube … ich glaube, er ist hiergeblieben. Hier, auf der Insel, bei den Schmetterlingen. Er hat die Schatzkarte entziffert und die Su?wasserquelle gefunden und er war glucklich hier. Glucklicher als zu Hause, wo die Abuelita zu viele dunkle Geschichten erzahlte von Geistern und Unaussprechlichen.«

»Ja«, sagte Marit. »Ja, er war bestimmt glucklich hier.«

Jose sah zum Abendhimmel hinauf.

»Sie haben gesagt, sie nehmen mich mit«, sagte Jose. »Ich werde fliegen. Nur ein kurzes Stuck, aber ich werde fliegen.«

»Geh blo? nicht verloren da oben«, sagte Marit.

Eine Weile standen sie schweigend vor dem Mais.

»Wei?t du, was ich glaube?«, flusterte Marit. »Ich glaube, ich werde jetzt nicht mehr von Deutschland traumen.«

»Julia auch nicht mehr«, sagte Jose. »Sie muss dich ja nicht mehr suchen. Du bist angekommen.«

»Ja«, sagte Marit. Sie streichelte Carmen, die auf ihrer Schulter sa?. Etwas raschelte zu ihren Fu?en. Uwe. Er sah zu ihnen auf, schlug einmal mit dem zackenbewehrten Schweif und verschwand dann im Wald neben dem Maisfeld.

»Mach’s gut!«, wisperte Marit. »Und danke. Gru? Oskar, wenn du ihn triffst. Der ist schon weg. Und Chispa.«

Etwas kam aus dem Maisfeld gewatschelt, und selbst im Dammerlicht sah Marit noch, dass es blaue Fu?e hatte.

»Loco«, sagte sie, »gehst du auch?«

Der Blaufu?tolpel neigte den Kopf, breitete die Flugel aus und reckte den Hals schlie?lich nach hinten. Er trippelte ein paarmal nach links, ein paarmal nach rechts, beendete seinen Tanz mit einer Art Pirouette und flog auf. Marit sah ihm nach, wie er uber die Baume strich. Diesmal nicht, um jemanden zu holen. Diesmal verlie? er sie.

»Da fliegt noch etwas«, sagte Jose. »Ist das ein Flamingo?«

Marit nickte. »Sieht so aus. Ich dachte immer, er wartet, bis er ein paar andere Flamingos findet. Aber jetzt fliegt er doch allein los. Warum ist er die ganze Zeit uber bei uns geblieben? Warum macht er sich gerade jetzt auf den Weg?«

Jose lachte. »Vermutlich war die Suppe aus.«

Er ging ein Stuck an dem seltsam geformten Maisfeld entlang. »Von jetzt an konnt ihr ganz gewohnliche rechteckige Felder bebauen«, sagte er, »die von uberall aus zu erkennen sind.«

Marit nickte. »Ich hatte nie gedacht, dass sie uns bleiben lassen. Aber es sieht ganz danach aus. Lindsey hat versprochen, sich fur uns einzusetzen.«

Sie waren vor einem Streifen dunkler, frischer Erde stehen geblieben. Eine Handvoll violetter und wei?er Bougainvillea-bluten lag darauf. Marit seufzte. Alles hatte so schon sein konnen, dachte sie. Alles hatte perfekt sein konnen. Aber hier, unter der Erde, lag Thomas Waterweg.

In seiner Tasche hatte ein alter Teddybar mit roter Schleife gewartet. Julia hatte den Baren gerettet, ehe sie Thomas in sein Grab gelegt hatten.

Marit hatte ihn so gehasst. Dafur, dass er ein Nazi war. Dafur, dass er ein deutscher Spion war. Dafur, dass er sie gezwungen hatte, Deutschland zu verlassen und neu anzufangen. Und vor allem dafur, dass er lebte und ihr eigener Vater tot war. Und nun war alles anders.

Waterweg war nie ein Nazi gewesen. Er hatte nur so getan. Unter dem Deckmantel seiner Uniform hatte er Menschen geholfen zu fliehen. Er war ein Nachtfalter gewesen, genau wie die Menschen, die Mama und Papa und Julia geholfen hatten, und dennoch hatte er nicht gewusst, dass Mama und Papa und Julia Hamburg je verlassen hatten. Der Krieg hatte zu viel Chaos mit sich gebracht, zu viel Verwirrung, und die Nachtfalter hatten den Kontakt zueinander verloren.

Die Deutschen hatten geglaubt, Thomas Waterweg ware ein deutscher Spion gewesen. Casaflora hatte es geglaubt. Das war der Plan gewesen. Aber dass es am Ende auch Jeff Lindsey geglaubt hatte, hatte nicht zum Plan gehort. Thomas war nie ein deutscher Spion gewesen. Seine Mission hatte darin bestanden, herauszufinden, ob es einen deutschen Spion auf Baltra gab. Sie hatten es lange vermutet. Und es hatte einen gegeben. Casa-flora.

Und nun waren sie beide tot. Casaflora besa? kein Grab. Mama hatte darauf bestanden, ein Holzkreuz fur ihn zusammenzunageln und neben das von Thomas Waterweg in die Erde zu stecken.

Marit spurte, dass etwas an ihrem Armel hinabkletterte, danach an ihrem Hosenbein … »Carmen«, sagte sie. »Naturlich. Du musst gehen. Wie ihr alle. Ich werde dich vermissen.«

Carmen blickte sich nicht um. Sie verschwand zwischen den Maispflanzen, als ware sie nie eine zahme Ratte gewesen.

Marit seufzte ein zweites Mal und wandte sich wieder dem frischen Grab zu.

»Es tut mir leid«, flusterte sie. »Es tut mir leid, dass ich dich so gehasst habe, Tom. Es war nicht fair. Aber warum hast du mir nie die Wahrheit gesagt? Warum hat nie irgendwer irgendwem die Wahrheit gesagt? Jose hatte dir sagen konnen, dass die Karte im Krater des Vulkans liegt. Du hattest ihm sagen konnen, dass du nicht auf der Seite der Deutschen bist. Ich hatte ihm sagen konnen, wer ich bin, und Mama hatte mir von Anfang an sagen konnen, was sie vorhatte, damals, in Hamburg … und all diese Missverstandnisse waren nie in die Welt gekommen. Und diese ganze Geschichte ware nie, niemals geschehen!«

Jose holte Luft. Sie erwartete, dass er sagen wurde: »Aber dann hatten wir uns nie, niemals getroffen.« Doch er sagte etwas anderes.

Er sagte: »Sieh nur. Auf dem Dach. Der Albatros.«

Marit drehte sich um. Tatsachlich – irgendwie hatte Kurt es geschafft, uber die Veranda und die Ranken der Bougainvillea aufs Dach zu klettern. Jetzt stand er auf dem schmalen First und seine wei?en Federn leuchteten im letzten Licht des Tages. Er sah zu ihnen hinunter, und es schien Marit, als nickte er. Dann breitete er seine riesigen Flugel aus, schlug ein paarmal damit und rannte uber die Kletterpflanzen die Dachschrage hinunter. Am Rand des Daches warf er sich vorwarts, in den leeren Raum, ruderte mit den Flugeln wie ein ertrinkender Schwimmer, fiel ein Stuck, fing sich – und dann packte ein warmer Aufwind ihn, und er stieg empor, sammelte den Wind unter seinen schmalen, schwertformigen Schwingen, segelte hinein in den Abendhimmel: nicht langer ungeschickt und plump, sondern elegant. Gro?artig. Majestatisch.

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