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Die geheime Reise der Mariposa - Michaelis Antonia - Страница 44


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»Jose!«, rief Marit. Sie bekam einen Schwall Wasser in den Mund, hustete und spuckte. »Jose?«

Er war nirgendwo zwischen den Schaumkammen der Wellen zu entdecken. War er da? Ganz in der Nahe? Oder hatte das Meer auch ihn auf seinen Grund hinabgezogen, unerbittlich in seiner Gier?

Als Jose die Mariposa sinken sah, war es, als wurde sein Herz mit ihr versinken.

Honigboot, dachte er, Schmetterlingsschiff. Goldarche.

Er hatte sie so geliebt.

Sie war das erste Schiff gewesen, das er ganz allein gesteuert hatte, und er hatte sie in den Untergang gesteuert. Er lie? sich von den Wogen beuteln und untertauchen, ohne sich zu wehren – er fuhlte, wie sich auf seinem Gesicht Tranen mit dem Wasser des Ozeans vermischten, und er schamte sich dafur, aber niemand sah ihn weinen. Nur die Abuelita keifte in seinem Kopf. Jetzt rei? dich aber zusammen! Das ist keine Beerdigung, sondern ein Sturm! Und du hast jetzt keine Zeit zum Heulen! Willst du, dass die Unaussprechlichen dich zu ihrem Sklaven machen, dort, am Grunde des Meeres? Schwimm!

Da schwamm Jose, und als er etwas Holzernes auf sich zutreiben sah, griff er danach und packte es. Es war eine der Heckbanke der Mariposa. Und darauf sa? schon jemand. Uwe der Leguan. Es war ein merkwurdiges Bild, dieser kleine urzeitliche Drache mitten im Sturm auf einer losgerissenen Holzbank, aber Jose sah das Bild nicht lange, denn die Wellen uberspulten Drache und Flo? und ihn selbst jetzt unermudlich. Wahrend er mit dem Wasser kampfte, dachte er in regelma?igen Abstanden einen Namen, obwohl es ihm nichts nutzte, ihn zu denken. Marit!, dachte er, Marit! War sie da? Ganz in der Nahe? Oder hatte das Meer auch sie auf seinen Grund hinabgezogen, unerbittlich in seiner Gier?

Irgendwann legte sich der Sturm. Irgendwann legt sich jeder Sturm. Die Nacht breitete sich sanft und schwarz uber den Pazifik, und er rollte mit langen Atemzugen alles, was sich auf seiner Oberflache befand, nordwestwarts: Tang, Traume, Treibholz.

Zwei Stucke Treibholz waren von rechteckiger Form und das Licht einer schmalen Mondsichel kratzte ihre Umrisse ins Wasser wie Linien in schwarzes Kohlepapier. Etwas hing an diesen Treibholzstucken, etwas sa? darauf, etwas klammerte sich daran. Etwas, das sich kaum noch regte. Schlie?lich hob es den Kopf und da war es ein Mensch. Ein Mensch, der auf dem beinahe glatten Wasser das andere Stuck Treibholz sah.

»Jose?«, flusterte Marit und griff nach seiner Schulter, um ihn zu schutteln.

Jose sah auf und blinzelte. »Ja«, sagte er. »Ich glaube, ich bin es.«

Da grinste Marit. »Ist das nicht unglaublich?«, fragte sie. »Wir leben. Und sieh nur, dort!«

Sie zeigte voraus in die Nacht. Dort kam etwas Gro?es, Wei?es herangepaddelt, und etwas Kleineres, das rosa gewesen ware, hatte das Licht fur Farben gereicht: ein Albatros und ein Flamingo. Kurz darauf tauchte vor ihnen ein Pinguin auf. Er lie? sich auf die Tur heben und sah sich etwas verwundert um.

»Nur die Seelowin fehlt«, stellte Jose fest.

»Nein«, sagte Marit. »Dreh dich um.« Hinter Jose blinzelten zwei glanzende Augen aus einem runden Gesicht ins Mondlicht. Chispa paddelte naher und zog sich neben Jose auf die schmale Bank. Dort rollte sie sich auf die Seite und schlief unverzuglich ein.

Einen Augenblick wurde Marit warm und leicht ums Herz. Doch dann sah sie den Ozean in der Nacht liegen, unendlich und weit, und sie fuhlte das Gleiche wie in jener Nacht, als sie von der Isabelita aus ins Wasser gefallen war: die Unmoglichkeit zu uberleben.

Damals war Jose vorbeigekommen und hatte sie herausgefischt. Und jetzt?

»Was werden wir jetzt tun?«, flusterte sie. »Wir sind meilenweit weg von jeder Insel. Marchena liegt einen Tag hinter uns und die Isla Maldita einen Tag vor uns, und ich wei? nicht einmal, in welcher Richtung …«

»Die Schiffe«, sagte Jose. »Die Roosevelt und … das andere Schiff. Sie mussen noch immer in der Nahe sein. Ist es nicht ein Gluck, dass wir verfolgt werden?«

Marit sah sich um. »Ich sehe sie nicht.«

»Wenn der Morgen kommt«, sagte Jose, »dann wirst du sie sehen. Und sie werden uns sehen. Wer immer sie sind, sie werden uns herausfischen. Ich werde ihnen die Karte von der Isla Maldita geben.«

»Du hast die Karte noch?«, fragte Marit verblufft.

Jose nickte. »Sie steckt in meiner Tasche, klein zusammengefaltet. In der wasserdichten Hulle, in der Casafloras Karte einmal war. Vielleicht erkauft sie uns den Weg auf die Roosevelt.«

Und dann wurde es Morgen, ein Morgen von der Farbe der Mariposa, hell und golden und leuchtend. Und Marit sah die Schiffe. Sie sah, wie weit weg sie waren. Sie fuhren nicht auf sie zu. Sie fuhren in der Ferne an ihnen vorbei, dicht nebeneinander jetzt. Marit und Jose schrien und winkten, doch sie wussten, dass es keinen Zweck hatte.

»Sie kommen schon noch«, sagte Jose. »Wenn sie die Mariposa nicht mehr sehen, wissen sie, dass wir irgendwo hier im Wasser schwimmen.«

Die Schiffe wechselten tatsachlich den Kurs. Aber diesmal fuhren sie auf der anderen Seite an ihnen vorbei, und noch immer war die Entfernung viel zu gro?.

»Marit!«, sagte Jose plotzlich. »Ich wei? es jetzt! Woher ich das andere Schiff kenne! Es ist die Albatros! Die Jacht des alten Silvio, der mich nach Baltra mitgenommen hat. Ich wei? nicht, warum er uns verfolgen sollte … vielleicht hat er das Schiff jemand anderem geliehen … aber die Albatros ist ein gutes Schiff. Die Albatros wird uns finden. Bestimmt.«

Marit lag auf dem Rucken auf ihrer Tur, die Beine angezogen, Carmen auf dem Bauch. Ihre Kleider trockneten langsam und die Sonne brachte die Warme in ihren Korper zuruck. Doch die Schiffe brachte sie nicht zuruck. Gegen Mittag wechselten sie zum dritten Mal den Kurs.

Was sie suchten, war zu klein, war vernichtend winzig im riesigen Blau des Pazifiks. Seine sanften Wellen waren noch immer zu hoch, sie verbargen das willenlos dahintreibende Spielzeug des Meeres gut.

Gegen Mittag fiel ein leichter Regenschauer, und Marit und Jose lie?en das Su?wasser mit geschlossenen Augen uber ihre Gesichter laufen und versuchten, so viel wie moglich davon zu trinken. Es nahm die sengende Hitze der Sonne fort und kuhlte auf wunderbare Weise. Als der Regen nachlie?, offnete Marit die Augen. Und da sah sie, wie die beiden Schiffe abdrehten und davonfuhren. Sie hatten ihre Suche aufgegeben.

»Jetzt sind wir ganz allein«, sagte Marit bitter. »Ganz allein mit der Sonne und dem Ozean. Und einer Handvoll Tieren, die uns auch nicht helfen konnen.«

»Nein«, sagte Jose. »Wir sind nicht allein. Wir sind zu zweit. Vergiss das nie.«

Wie viele Bucher hatte Marit uber Schiffbruchige gelesen! Uber die unbarmherzig herabbrennende Sonne. Uber die Wasserknappheit. Den Hunger auf den Rettungsbooten. Den Kannibalismus, der letztlich ausbrach. Den Mut, den die Schiffbruchigen bewiesen. Es war alles gelogen.

Marit ware nicht einmal auf die Idee gekommen, eines der Tiere aufzuessen, die mit ihnen unterwegs waren. Die Tur, auf der sie lag, schaukelte auf eine seltsam unstete Weise, und wenn Marit irgendetwas in ihrem Magen spurte, dann Ubelkeit. Sie konnten auch keinen Mut beweisen, denn es gab nichts, was sie hatten tun konnen. Das einzig Wahre, was in den Buchern gestanden hatte, war die sengende Sonne. Sengend. Erst jetzt begann sie das Wort zu begreifen.

Es war die hellste Art, hell zu sein, die hei?este Art, hei? zu sein, die unausweichlichste Art, unausweichlich zu sein. Jose zog sein Hemd aus, um damit seinen Kopf zu schutzen, wie damals auf der Mariposa. Und Marit stellte voller Erstaunen fest, dass sie noch immer eine karierte Mutze in der Tasche hatte. Wenn sie gegen Wind und Regen in Europa half, warum sollte sie nicht gegen die Sonne des Pazifiks helfen?

Sie half nicht. Die Sonne durchbohrte den Stoff mit ihren Strahlen und dorrte die Korper auf dem Ozean aus, sie spiegelte sich tausendfach auf der Wasseroberflache und stach in die Augen, stach ins Gehirn. Und dann kam die Nacht und mit der Nacht kam die Kalte.

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