Die geheime Reise der Mariposa - Michaelis Antonia - Страница 16
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»Da oben!«, rief der Mann. »Auf den Felsen! Jemand ist auf den Felsen!«
»Und wirft Kiesel auf uns?«, fragte der andere. »Was soll das?«
»Er macht sich lustig uber uns. Vielleicht ist es nur ein einheimisches Kind. Eines wie das, das wir auf der Lichtung aufgelesen haben.«
»Und wenn nicht?«
Die Frage blieb in der Luft stehen.
»Warte hier«, sagte einer der Manner. Ehe Jose ganz begriffen hatte, hatten sie ihn stehen lassen und waren auf dem Weg in die Felsen hinauf. Da bewegte sich etwas in Joses Hosentasche. Er machte einen Satz vor Schreck. Das, was sich bewegt hatte, war jetzt aus der Tasche geklettert, und kurz darauf rannte es als brauner Blitz uber den Boden. Eine Ratte.
»Carmen«, flusterte Jose erstaunt. Wieso war sie hier? Er wusste, dass er sie auf der Mariposa gelassen hatte, zusammen mit Oskar, dem Pinguin, und Jonathan … Carmen fuhrte ihn ein Stuck zuruck in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Dann schlupfte sie ins Unterholz, dort, wo es am dichtesten war. Jose folgte ihr. Einen Moment sa? er ganz still in dem grunen, modrigen Versteck und auch Carmen sa? still. Sie wartete auf jemanden.
Und der Jemand kam.
»Hallo, Jose«, flusterte Jonathan und kroch neben ihm ins Gebusch. Jose wollte etwas sagen, doch da horte er die Stimmen der Manner in der Ferne.
»… nicht mehr hier«, sagte einer von ihnen. »… stimmt etwas nicht.«
»Hier stimmt uberhaupt nichts«, sagte der andere, naher jetzt. »Lass uns hinubergehen, zur Buccaneer Cove. Ich konnte wetten, der Kleine ist vor uns dort. Ist losgerannt, um jemanden zu warnen. Obwohl ich nicht begreife …«
Die Stimmen entfernten sich.
Jose atmete ein paarmal tief durch. »Frag mich jetzt blo? nicht, was passiert ist«, sagte er schlie?lich.
»Was ist passiert?«, fragte Jonathan.
Als sie den Strand erreichten, war es bereits Nachmittag. Auf Joses Stirn standen Schwei?perlen, obwohl ein kuhler Wind uber den Pazifik strich.
»Du bist wei? wie ein Segel«, sagte Jonathan. »Lass mich das Gewehr hinuberbringen.«
Jose nickte stumm. Er schaffte es kaum, bis zu den Felsen zu schwimmen, zwischen denen die Mariposa gut verborgen vor Anker lag.
Gelegen hatte.
Der Platz zwischen den Felsen war leer.
Jose schloss einen Moment die Augen. »Jonathan«, sagte er, wassertretend. »Ich kann nicht mehr. Mir ist schlecht. Das ist alles falsch.«
»Ja«, sagte Jonathan. »Ich habe Oskar gesagt, er soll nicht allein wegsegeln, aber er hat sich wohl nicht daran gehalten.«
»Wer ist Oskar?«, fragte Jose erschopft.
»Unser Pinguin.«
»Hor mal, das ist ein ziemlich schlechter Zeitpunkt fur Witze.«
»Ich wei?«, sagte Jonathan. »Aber manchmal ist alles so … dumm, dass man nur noch Witze machen kann. Ich meine, hier trete ich mitten im Pazifik Wasser und halte ein Gewehr uber dem Kopf und habe keine Ahnung, was ich tun soll.«
In diesem Moment pfiff jemand leise. Jose offnete die Augen. »Carmen«, sagte Jonathan. »Hey! Musst du … uber mein Gesicht …? Au!« Die Ratte hatte bis eben auf Jonathans Kopf gesessen, um nicht nass zu werden. Jetzt kletterte sie uber seine Nase hinunter Richtung Wasser und sprang freiwillig hinein. Und dann schwamm sie los. Sie schwamm sehr zielstrebig. Nicht in Richtung Land, sondern um den au?ersten der Felsen herum, in Richtung des offenen Meers. Jonathan und Jose folgten ihr verwundert. Und als sie die Ecke des Felsens erreichten, sahen sie etwas, das er bisher verborgen hatte: Da schaukelte ein Schiff auf den Wellen, ein honigfarbenes Schiff mit einer kleinen Kajute.
Carmen erreichte die Mariposa als Erste.
Kurz darauf kletterte Jonathan die kleine metallene Leiter am Heck hoch und zog Jose ins Boot. »Sieh nach«, wisperte Jose und lie? sich auf eine der Banke fallen, »ob jemand in der Kajute ist. Ich wusste nicht, wer … aber sieh nach!«
Die Tur zur Kajute klemmte. »Ich kriege sie nicht auf«, sagte Jonathan voller Unbehagen. »Hilf mir mal.« Als Jose sich von der Bank erhob, packte ihn wieder der Schwindel.
Sie zogen gemeinsam am Griff der kleinen Tur, und Jose hatte das ungute Gefuhl, dass sie sich nicht offnen wurde. Jemand hatte sie zugeschlossen. Von innen. Jemand … In diesem Moment gab die Tur plotzlich nach. Jonathan und Jose fielen ruckwarts auf die Decksplanken. Jonathan setzte sich als Erster auf.
»Oh«, sagte er, »ich muss die Kajutentur offen gelassen haben. Das Abwaschwasser wollte ich eigentlich auch noch auskippen …«
Er half Jose hoch, und da sah auch er das merkwurdige Bild, das sich ihnen in der Kajute bot. Unter dem Tisch stand ein Eimer Wasser mit einem badenden Pinguin darin. Den Geschirrlappen hatte der Pinguin aus dem Eimer hinausbefordert, und er war auf der Schwelle der Kajutentur gelandet, wo er sich verklemmt hatte, als die Tur vom Wind zugeschlagen worden war.
Auf dem Tisch stand der Topf mit den Resten der Krabbensuppe. Und daneben stand ein Flamingo. Er hatte den schlanken Hals gebeugt und steckte mit dem krummen Schnabel in der Suppe. Offenbar war er dabei, sie zu filtern. Und er sah aus, als schmeckte ihm, was er fand. Als er die beiden Jungen sah, hupfte er vom Tisch und stakste umstandlich die vier Stufen von der Kajute hoch an Deck.
»Besser, du fliegst weg«, sagte Jonathan. »Deine Leute sind auch nicht mehr da. Aber du wei?t sicher, wo sie hingeflogen sind.«
Der Flamingo flog aufs Kajutendach und sah sich um. Jose hatte in seinem Leben eine Menge Flamingos gesehen. Sie bruteten in der Nahe des Hafens von Villamil, auf Isabela. Aber nie hatte er einen gesehen, der so ratlos wirkte.
»Ich glaube, er hat keinen blassen Schimmer«, meinte Jonathan. »Wo sie hingeflogen sind, meine ich.«
»Dann … soll er irgendwohin fliegen!«, rief Jose. »Ksch! Weg! Hau ab!«
Aber die gro?e blaue Weite des Himmels uber dem Pazifik, an dem nirgendwo ein Schwarm seiner Artgenossen zu sehen war, schien dem Flamingo mehr Angst einzujagen als dieser nasse Mensch, der mit den Armen fuchtelte. Er schuttelte sich und kehrte zuruck unter Deck, um weiter Suppe zu filtern.
Jose seufzte. »Wir sind doch nicht die Arche Noah!«
Jonathan lachte. »Die Mariposa hat inzwischen eine stattliche Besatzung, was? Ein Flamingo, der nicht fliegen will, ein Pinguin, der nicht mehr schwimmen kann, und eine Ratte, die nicht an Land gehen mochte. Und der Einzige, der das Boot segeln kann, hat eine Gehirnerschutterung.«
»Nein.« Jose schuttelte langsam den Kopf.
»Nein?«
»Ich bin nicht der Einzige, der die Mariposa segeln kann. Du wirst sie segeln. Du musstes tun. Ich schaffe es nicht.«
Sie teilten sich eine Dose mit kaltem Rindfleisch und offneten eine mit Fisch fur Oskar, und dann erklarte Jose Jonathan, was er mit Tauen und Segeln zu tun hatte. Es dauerte eine Ewigkeit, aber schlie?lich fing sich der Wind in den Segeln der Mariposa, und sie glitt sacht uber die Wellen, fort von Santiagos Kuste. Jose hatte Jonathan auch den Kompass erklart, der uber der Kajutentur in einer gro?en Glaskugel eingelassen war und mit dem Boot schwankte, aber er wusste nicht, ob Jonathan verstanden hatte, wie man danach steuerte. Es war ihm egal. Als die ersten gro?eren Wellen nach der Mariposa griffen, erbrach er sich uber die Reling, und danach legte er sich auf die schmale Backbordbank und versuchte, nicht daran zu denken, wie verquer alles war.
»Der Wind, wei?t du?«, sagte Jonathan. »Er hat gedreht. Wenn die Mariposa in ihrem Versteck geblieben ware, hatte er sie gegen einen der Felsen gedruckt. Ist es nicht merkwurdig, dass sie sich selbst gerettet hat?«
»Hmm«, machte Jose.
Sich selbst gerettet, was?,hohnte die Abuelita in seinem Kopf. Unsinn! Das Schiff eines Toten rettet sich nicht selbst. Hast du die Unaussprechlichen schon vergessen, die in der Tiefe wohnen? Er hat sie gerufen. Er ist noch an Bord, der tote Segler. Er liebt sein Schiff genau wie zu seinen Lebzeiten, er lasst es nicht im Stich. Behandelt es nur gut, das Honigboot! Wer sein Schiff so liebt, dass er es noch nach seinem Tod bewacht, mit dem ist nicht zu spa?en …
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